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"James" von Percival Everett: Die versteckte Botschaft in den Abenteuern von Huckleberry Finn

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Der Sklave aus Missouri spielte in dem Roman von Mark Twain nur eine Nebenrolle. Doch seine Geschichte ist mehr als nur ein Detail in einem Kinderbuch.

Roman.

"He da, wer ‘s da? Ich mich lassen tothauen, ich haben was gehört! Aber Jim sein nicht so dumm! Jim sitzen hier hin und warten!" Der Mann, dem Tom Sawyer und Huckleberry Finn im Dunkel nachstellen, ist in Wahrheit überhaupt nicht dumm. Und Jim heißt er schon gar nicht, so nennt ihn nur sein weißer Besitzer. Der Sklave mit dem selbst gewählten Namen James mimt aus Selbstschutz den Dummen. Denn nichts erbost weiße Herrschaften mehr als das Besserwissen von anderen. Darum auch hat Autor Mark Twain nicht erkannt, dass er "Die Abenteuer des Huckleberry Finn" hätte anders erzählen müssen. Denn es handelt sich tatsächlich um die Abenteuer des Sklaven James - und seine Befreiung. Behauptet jedenfalls Percival Everett, der mit »James« einen Schlüsselroman der US-Literaturgeschichte umschrieb. Ihm gelingt Aktualisierung und Hommage zugleich.

Die 1884 veröffentlichten "The Adventures of Huckleberry Finn" werden bis heute als harmloses Kinderbuch missgedeutet. Aus deutschen Ausgaben wurden in der Regel sozialkritische Inhalte gekürzt, weshalb nur Lausbubenstreiche übrig blieben. Mark Twains radikal-neuer Ansatz wurde unkenntlich. Er schrieb über die einfachen Leute, während sich die an britischen Manierismen geschulte sonstige US-Literatur den Privilegierten zuwandte. Statt über englische Herrenhäusern oder das viktorianische London zu schreiben, schickte er zwei Tramps den Mississippi hinunter. Ernest Hemingway sah in den Abenteuern eine Art Unabhängigkeitserklärung, von der "die gesamte moderne amerikanische Literatur" abstammt.

Die Reise beginnt irgendwann in den Jahren nach 1835, als das erste Dampfschiff den Strom befuhr. Im fiktiven St. Petersburg in Missouri erfährt der Sklave James, dass er verkauft werden soll. Er flüchtet unter Lebensgefahr, um sich durchzuschlagen und die Familie irgendwie freikaufen zu können. Außerdem fürchtet er, für den Mörder von Huckleberry - Huck - Finn gehalten zu werden, der ebenfalls fortgelaufen ist. Beide eint eine ungleiche Freundschaft, die auf der gemeinsamen Flucht noch enger wird.

Inhaltlich hält sich Everett ans Original, solange die beiden Protagonisten gemeinsam unterwegs sind. Alle bekannten Stationen wie das Entdecken des Hausboots, Hucks Tarnung als Mädchen und die Begegnung mit dem betrügerischen Pärchen Herzog und König behält er bei. Nur beschreibt er sie aus der Perspektive des Sklaven James, die in weiteren Kapiteln um neue Episoden erweitert wird. Damit wiederholt Everett das unerhörte Neue, das Twain unternahm: Die Entscheidung, die Geschichte aus Sicht und mehr noch in der Sprache einer Person vom gesellschaftlichen Rand zu erzählen.

Der US-Schriftsteller Percival Everett beschreibt wie Twain diese Reise als Befreiung. Huck entflieht seiner vermeintlichen Zivilisierung. Der Halbwaise soll zu dem werden, was Witwe Douglas unter einem anständigen Jungen versteht. Everett dreht das bewusst weiter, wenn er James ins Zentrum rückt. Denn die Unzivilisiertheit der Schwarzen wurde historisch als Argument angeführt, sie als Sklaven besitzen, verkaufen, quälen und töten zu dürfen. In Fieberträumen liefert sich James leidenschaftliche Diskussionen mit dem Philosophen Voltaire, der die Sklaverei ablehnte und doch an ihr verdiente. "Wie kann n Mensch nem anderen gehören?", kommentiert Huck aufrichtig fragend.

Gab Twain dem angeblich dummen Jungen eine Stimme, so erhält James die Macht der Erzählung, die schließlich seine Ketten sprengt - James unchained. Die Figur erfährt eine Ermächtigung. Spielte Twain mit den Südstaatendialekten, so ist hier die Ausdrucksweise der Sklaven das Experimentierfeld. Sie sprechen untereinander mit verständlicher Sprache, werden allerdings verdruckst, verstellen sich, sobald sie in Hörweite der Weißen geraten. Denn diese »erwarten, dass wir auf eine bestimmte Weise klingen, und es kann nur nützlich sein, sie nicht zu enttäuschen«, erklärt James. Bei ihm klingt die Simulation des Einfältigen dann so: "Ich denk ma, s gibt viele Fußspuren im Schnee. Da hinterlassen die Leute nämmich immer welche." "Kannch die da behaltn?" Und: "Chwar traurig, wie sie gestorm is." Übersetzer Nikolaus Stingl leistete hervorragende Arbeit.

James kann lesen und schreiben, noch etwas Unerhörtes. Als er ein leeres Papier findet und zum Stift greift, beginnt eine Art der Selbstbeugung: "Ich heiße James." Romantisiert wird nichts. Denn James hat oft schlicht Glück. Der Sklave, der ihm den Stift für die symbolische Freiheit der Schreibbewegung besorgt, wird wegen des Diebstahls ausgepeitscht. Eine minderjährige Schwarze, die er befreien will, findet den Tod.

Die Brutalität der Geschichte, der geschilderte Rassismus werden nicht abgemildert und doch liest sich das Buch wie die Vorlage auch als unterhaltsames Abenteuer. Sein Perspektivwechsel befreit nicht nur seine Figur, sondern ermöglicht ihm erst dieses leichte, befreiende Schreiben über das finstere Kapitel der US-Geschichte. Dieses Buch liest sich runter wie eine flotte Flussschifffahrt auf dem Mississippi.

Das Buch Percival Everett: James. Aus dem Englischen von Nikolaus Stingl. Hanser: München 2024. 336 S., 26 €

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