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Zwischen Navi-App und Cybersex: Wollt ihr die totale digitale Freiheit?

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Surfen, Streamen, Daddeln; 44 Prozent aller Deutschen können sich ein Leben ohne Smartphone nicht mehr vorstellen. Die Handy-Bildschirmzeit der 18- bis 19-Jährigen beträgt durchschnittlich viereinhalb Stunden am Tag. Lebt es sich digital wirklich besser?

Essay.

Klar, Smartphones sind unheimlich nützlich. Aber nicht Karten, Kamera oder Notizen dominierten unsere Bildschirmzeit - oft sind es Unterhaltungs-Apps wie Games und soziale Medien. Der Reiz, das Handy in jedweder Situation zu zücken, ist groß, zumal es auch ständig bei alltäglichen Erledigungen wie Post oder Bahn zum Einsatz kommt. Im Arbeitsleben, im Alltag und in der Freizeit, von der Kommunikation mit Kolleginnen bis hin zum Liebesleben bilden Apps oft den dominanten Weltzugang.

Man könnte meinen, all diese Anwendungen seien letztlich auch nur schnöde Produkte wie physische Waren eben auch - sie mögen eine Welt versprechen, bieten aber nur kurzweilige Zerstreuung. Am anderen Ende der Medienkritik stehen Techno-Visionäre, die bereits an einer simulierten Hyperrealität arbeiten, einem Metaversum. Welche Bedeutung hat es noch, ob Informationen analog oder digital, Erfahrungen real oder virtuell erzeugt werden?

Der kulturpessimistische französische Denker Jean Baudrillard diagnostizierte dem Zeitalter der Simulation bereits 1976 den Bezug zur Wirklichkeit völlig verloren zu haben. Aufgrund der elektronischen Reproduzierbarkeit von Zeichen wie Fotos oder Werbung hätten sich diese Zeichen vom Realen gelöst, der Gebrauchswert der Ware hätte sich vom Tauschwert gelöst: Alles ist für ihn beliebig.

Nach Baudrillard lebten wir in einem Zustand totaler Freiheit, in einem Zeitalter frei fluktuierender Zeichen und Währungen, die aber keine festen Bedeutungen mehr haben. Alle Werte und Antagonismen, auf denen unsere Zivilisation einst beruht hätten, seien ausgelöscht: In der Mode seien Schönes und Hässliches austauschbar geworden, in der Politik rechts und links, in den Medien Wahres und Falsches.

Mit vielen Diagnosen war Baudrillard visionär. Verblüffend schlecht können wir in sozialen Medien Fake News von der Wahrheit unterscheiden. Politische Meinungen fluktuieren zwischen rechts und links, soziale Medien belohnen Populismus. Die Algorithmen sozialer Netzwerke und künstliche Intelligenz machen es uns heute unmöglich, die Zeichen zu kennen, aus denen sie ihre Oberflächen generieren. Sie wirken sich aber auf unsere Psyche, unser Denken und Weltbild aus. Und Erfahrungen zunehmend aus medialisierten Welten zu beziehen, scheint per se Nebenwirkungen zu haben.

Soziale Medien befriedigen Grundbedürfnisse wie Aufmerksamkeit, Neugierde, Neid und Zugehörigkeitsgefühl. Unsere sozialen Beziehungen haben sich durch sie aber nicht intensiviert; sie wurden flüchtiger, kurzweiliger und weniger verbindlich. In sozialen Netzwerken führen wir "parasoziale Beziehungen", die in Konkurrenz zu Beziehungen in der analogen Welt stehen, diese mitunter sogar unterbrechen und uns insgesamt einsamer machen können.

Internet-Sucht ist real und betrifft vor allem diese drei "Stoffe": Cybersex, soziale Medien und Games. "Gaming Disorder", also die Computerspielabhängigkeit, gilt seit 2013 als Verhaltensstörung. Sie betrifft vor allem Jungen und junge Männer mit psychischen Vorbelastungen. Die Häufigkeit wird mittlerweile auf drei Prozent der Weltbevölkerung geschätzt. Forschungen zeigen, dass Handynutzung heute zu mehr Verkehrsunfällen als Alkohol führt. Ungeahnt viele Menschen kamen schon zu Tode, weil sie Selfies an gefährlichen Orten machten.

Digitale Medien lösen Probleme, die wir kognitiv nicht lösen könnten und machen Prozesse ungleich schneller und berechenbarer. In manchen Lebensbereichen aber führt uns vor allem unser Nutzungsverhalten an psychische Grenzen. Es ist bekannt, dass ständige Erreichbarkeit und Unterbrechungen unsere Konzentrationsfähigkeit drastisch senken und die Aufmerksamkeitsspanne verringern, ja, dass wir uns im gewohnten Rhythmus sogar selbst unterbrechen, auch wenn das Handy mal offline ist.

Bei Kindern aller Altersgruppen wurden Entwicklungsstörungen sprachlicher, motorischer und psychisch-emotionaler Art festgestellt, wenn sie täglich über längere Zeit Medien ohne Anleitung nutzten, ihnen also Smartphones oder andere Geräte einfach in die Hand gedrückt wurden. Es gibt Hinweise darauf, dass die Eltern-Kind-Beziehung gestört wird, wenn Eltern ihren Kindern nicht oft genug in die Augen sehen, weil sie ins Smartphone schauen.

Egal also, ob man Techno-Enthusiasten oder -Pessimisten anhängen mag, unser Körper und unsere Psyche geben uns Grenzen auf was die Nutzung digitaler Medien anbelangt. Die, die sie exzessiv nutzen oder studiert haben, wissen vielleicht am besten, wovon sie reden: Tim Cook, der CEO von Apple, sagte: "Meine Philosophie ist, wenn du mehr ins Smartphone schaust als einer anderen Person in die Augen, machst du etwas falsch."

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