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Zum Tod von Kurt Biedenkopf: Visionär und Macher

Fast zwölf Jahre lenkte Kurt Biedenkopf als Ministerpräsident die Geschicke des Freistaates Sachsen. Es war die Rolle seines Lebens. In der CDU galt er immer als Mann mit eigenem Kopf und als ein Rivale von Helmut Kohl. Am Donnerstagabend starb Biedenkopf im Alter von 91 Jahren.

Chemnitz/Dresden.

Selten war eine "zweite Wahl" so erfolgreich wie Kurt Biedenkopf als Ministerpräsident in Sachsen. Hier im Freistaat, zwischen Erzgebirge, Lausitz und Vogtland blühte der West-Import, geboren im rheinland-pfälzischen Ludwigshafen, regelrecht auf. Dabei schien seine politische Karriere schon beendet, als er 1990 nach Dresden kam und dort für Furore sorgte.

Beim damaligen Bundeskanzler Helmut Kohl war er in Ungnade gefallen. 1987 musste er sich auf einem Sonderparteitag der nordrhein-westfälischen CDU gegen Norbert Blüm, zu der Zeit Bundesarbeitsminister, bei der Wahl zum Landesvorsitzenden geschlagen geben. Bis dahin war Biedenkopf der starke Mann in der CDU an Rhein und Ruhr. Aber in einem inszenierten Machtkampf wurde er kalt gestellt. Biedenkopf war Kohl zu mächtig geworden. Schließlich stellte der neu fusionierte CDU-Landesverband 40 Prozent der Delegierten bei Bundesparteitagen.

Die Beziehungen zwischen Kohl und Biedenkopf waren schon früh nachhaltig gestört. Anfang 1979 hatte sich Biedenkopf in einem Memorandum für eine Neugestaltung der Führungsspitze der Union ausgesprochen und dabei eine Trennung der Ämter des Parteivorsitzenden und des Vorsitzenden der Unionsfraktion im Bundestag gefordert, die Kohl in seiner Person vereinigte. Der war daraufhin zutiefst verärgert.

Biedenkopf legte schließlich 1988 sein Mandat im Düsseldorfer Landtag nieder und verließ die Politik. Der gelernte Jurist und Hochschulprofessor wollte als Rechtsanwalt arbeiten.

Im Herbst 1989 schloss sich Biedenkopf aber noch einmal einer Gruppe von Politikern um den damaligen baden-württembergischen Ministerpräsidenten Lothar Späth, CDU-Generalsekretär Heiner Geißler und Bundestagspräsidentin Rita Süssmuth an, die auf dem Bremer Parteitag den angeschlagenen Kohl als Parteichef stürzen wollten. Doch der Putsch scheiterte kläglich.

Nach der Wende in Deutschland dann das bombastische Comeback für Biedenkopf, das sich zunächst eher zögerlich anließ. Die sächsische CDU suchte händeringend einen Kandidaten für die erste gesamtdeutsche Wahl. Geißler erzählte später in einen Interview: "Da suchte die CDU in Sachsen verzweifelt einen Ministerpräsidenten, und die wollten, dass ich das mache. Die waren wirklich in einer Notlage, aber ich wollte nicht." Da sei ihm die rettende Idee gekommen: Man könne doch da noch den Biedenkopf fragen! "Lothar Späth und ich haben Biedenkopf angerufen, und der hat nur gesagt: Darauf hab ich gewartet", so die Version von Geißler.

Biedenkopf als zweite Wahl? Seine Version geht etwas anders. Am 14. Mai 1990 habe es ein Treffen mit Vertrauten im Bonner "Interconti" gegeben. Geißler, die damalige Bundestagspräsidentin Süssmuth, das CDU-Präsidiumsmitglied Christa Thoben und er hätten überlegt, wie es mit der Union weitergehen könne, die gerade die Niedersachsen-Wahl an den aufstrebenden Ex-Juso-Chef Gerhard Schröder und damit auch die Mehrheit im Bundesrat verloren hatte. "Die Freunde sind der Ansicht, ich solle Ministerpräsident in Sachsen werden. Andere haben dies auch schon empfohlen. Aber noch kann ich mich mit dem Gedanken nicht anfreunden, mich um dieses Amt in der DDR zu bewerben", vertraute er seinem Tagebuch an. Zweieinhalb Monate später war das anders. Ende August wurde Biedenkopf plötzlich mitten in der Nacht durch einen Anruf geweckt: In der Leitung war Späth, der gerade mit Sachsens CDU-Spitze zwischen Geißler und Biedenkopf hin und her jongliert hatte. Geißler soll sich immer noch geziert haben, und auch so schlug das Pendel für Biedenkopf aus - der nun auch bereit für die neue Herausforderung war.

Im "glücklicherweise kurzen Wahlkampf" werde er "nicht die SPD bekämpfen", sondern ausschließlich über die in Sachsen anstehenden Aufgaben reden, schrieb er am 26. August in sein Tagebuch - wo er gleich auch noch notierte, wie der "noch immer latent vorhandene Vorwurf des ,Politiker-Imports'" entkräftet werden könne. Bei der Vorstellungsrede als Spitzenkandidat auf dem CDU-Landesparteitag Anfang September erhielt er nach eigener Einschätzung den größten Beifall für sein "Versprechen, dafür zu sorgen, dass Sachsen wieder der Freistaat Sachsen werde". Der Beginn einer Symbiose, wie es sie in keinem anderen der neuen Bundesländer gab: Dreimal hintereinander holte der von den Sachsen vergötterte Landesvater die absolute Mehrheit.

Schon die erste Landtagswahl in Sachsen am 14. Oktober 1990 wurde für Biedenkopf zu einem großen Triumph. Mit 53,8 Prozent der Stimmen erreichte die sächsische Union bayerische Mehrheitsverhältnisse. Für Biedenkopf war der Aufbau in den neuen Bundesländern trotz seiner Wurzeln im Westen eine Herzensangelegenheit, die auch an die eigene Familiengeschichte anknüpfte. 1938 wurde sein Vater Technischer Direktor des Buna-Werkes in Schkopau. Die Familie zog von Ludwigshafen nach Merseburg um. 1945 floh die Familie ins hessische Groß-Umstadt. Ähnlich war es bei seiner Frau Ingrid, deren Vater bis 1945 Inhaber eines Betriebes in Leipzig gewesen war. Sachsen war den Biedenkopfs also nicht fremd, weshalb er schon im Sommersemester 1990 eine Gastprofessur an der Uni Leipzig übernommen und dort Volkswirtschaftslehre unterrichtet hatte. Die Chance zur Spitzenkandidatur der CDU ergriff er sicher nicht zuletzt aus persönlichen Gründen - aber eben auch deshalb, weil er um die Mentalität der Sachsen wusste.

Dazu passte sein ordoliberales Credo: "Freiheit ist auch Verantwortung". Biedenkopf war ein hervorragender Analytiker. Er musste nicht Politiker werden, um etwas zu sein. Als Helmut Kohl ihn 1973 zum Generalsekretär der CDU berief, war er 43 und hatte schon eine glänzende Karriere in Wissenschaft und Wirtschaft hinter sich: Studium der politischen Wissenschaften, der Rechtswissenschaft und der Volkswirtschaft unter anderem in den USA; mit 34 war er Ordinarius für Handels-, Wirtschafts- und Arbeitsrecht an der Ruhr-Universität in Bochum geworden, mit 37 dort dann Deutschlands jüngster Hochschulrektor, bevor er in die Industrie wechselte und Geschäftsführer beim Henkel-Konzern wurde.

Als Generalsekretär der CDU brachte er einen neuen Tonfall in die Politik. An die Stelle von Behäbigkeit trat nun sprühende Intellektualität, die alten politischen Sprüche der Nachkriegszeit wurden entsorgt. Die Partei erfasste ein "terminologisches Staunen", formulierte es später Norbert Blüm, der Sozialpolitiker, der in der CDU jahrzehntelang der Antagonist des Wirtschaftsliberalen Biedenkopf war.

In seinem zweiten Politiker-Leben profitierte dann auch Sachsen von Biedenkopfs Talenten. Schnell stieg der Freistaat zum ostdeutschen Musterland auf. Dazu beigetragen haben neben diversen wirtschaftlichen Rahmenbedingungen und Biedenkopfs Ausstrahlung und Reputation auch diverse Personalentscheidungen: Mit Kajo Schommer als Wirtschaftsminister und Georg Milbradt als Finanzminister holte "König Kurt" tatendurstige Minister aus dem Westen nach Sachsen.

Probleme gab es erst, als Biedenkopf den Gedanken nicht ertrug, dass die nächste Generation sich nach seinem dritten Wahltriumph 1999 - die 58,1 Prozent von 1994 wurden es nicht mehr, aber immer noch stolze 56,9 Prozent - Gedanken um die Nachfolge machte. Mit dem Spruch, Milbradt sei zwar "ein hoch begabter Fachmann, aber ein miserabler Politiker", komplimentierte er seinen erfolgreichen Finanzminister aus dem Kabinett - und musste zusehen, wie der sich Stück für Stück zurückkämpfte.

Vorwürfe, sich für einen befreundeten Kölner Bauunternehmer zu sehr verwendet und mehrfach Rabatte beim Möbelhaus "Ikea" in Anspruch genommen zu haben, schadeten dem Ruf Biedenkopfs. Im Januar 2002 gab er auf und trat zum 18. April zurück - ohne damit den von ihm ungeliebten Nachfolger Milbradt verhindern zu können.

"Das Ende war überflüssig. Ich werde vielleicht später darüber reflektieren", sagte Biedenkopf mit dem Abstand von einigen Jahren. Jetzt sollte seine Frau Ingrid im Mittelpunkt seines Lebens stehen. "Nicht Sachsen oder die Politik, sondern meine Frau ist meine große Liebe. Es ist ein Opfer, für alles andere, nur nicht für sie da sein zu können", hatte Biedenkopf schon im März 1994 seinem Tagebuch anvertraut. Bis zum Schluss demonstrierte das Paar, das nach jeweils gescheiterten ersten Ehen im Dezember 1979 geheiratet hatte, auch öffentlich seine Unzertrennlichkeit. An der Sonderstellung für Ingrid, der der Ausspruch "Wir sind Ministerpräsident" zugeschrieben wird, hatte sich freilich auch die Kritik an Biedenkopf entzündet, zwischen Dienstlichem und Privatem nicht immer sauber unterschieden zu haben. So war der "First Lady" beispielsweise auf Kosten der Steuerzahler ein Extra-Büro in der Staatskanzlei eingerichtet worden.

Dass seine Sachsen-CDU ohne ihn nie wieder die absolute Mehrheit holte, dürfte ihm tief im Herzen Genugtuung verschafft haben. In der Öffentlichkeit blieb er auch danach noch präsent - weniger als Rechtsanwalt und mehr als kritischer Geist, der in Büchern, Interviews oder Vorträgen unbequeme Wahrheiten aussprach. Sein Kernthema blieb dabei dasselbe: dass Deutschland ohne Rentenreform angesichts der demografischen Entwicklung auf ein Desaster zusteuert. 2029 würden die Menschen bis 70 arbeiten, weil es dazu keine Alternative gebe. "Die Menschen können dagegen sein, ändern wird dies nichts", schrieb er. Die 67-Jährigen würden dann die 90-Jährigen pflegen müssen, weil es viel zu wenige junge Leute gibt, die dafür zur Verfügung stehen." Ob's bald soweit ist?

Im Rückblick nannte Biedenkopf einmal die Jahre zwischen 1990 und 1997 die "spannendste Zeit" seines Politiker-Lebens - aber 2005, als er 75 Jahre wurde, gab er auch an, neugierig auf die Zukunft zu sein. "Mich interessiert, wie Sachsen im Jahr 2020 aussieht." Das hat Kurt Biedenkopf erlebt. Einer seiner letzten öffentlichen Auftritt war im September 2020 in Aue. Gefeiert wurden 30 Jahre Freistaat Sachsen.

Reaktionen aus Chemnitz: "Er war nie von oben herab"

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